Von Mäusen und Leichen

Jeder Charakter hat ein Geheimnis, das selbst sein Schöpfer zu Beginn noch nicht kennt. Erst wenn wir ihn ein Stück weit des Weges begleitet haben, ist er bereit, sich uns anzuvertrauen.

Das wirklich Spannende ist, dass es viele verschieden Arten von Leichen gibt und genau so viele verschiedene Wege, damit umzugehen – sowohl von Seite des Charakters, als auch von Seite des Autors.

 

Leiche ist nicht gleich Leiche

Es muss nicht immer ein verwesender menschlicher Körper sein, der einbetoniert wurde. Manch ein Protagonist hat in seiner stürmischen Jugend aus Notwehr eine Mausefalle im Kartoffelkeller aufgestellt und als der Nager schließlich leblos darin lag, in einer Kurzschlussreaktion die Tür zum Keller verrammelt. Für sogenannte “echte” Helden, die wirklich durch und durch moralischen und guten, kann schon so eine Tat ein ewiger Gewissenskonflikt sein. In Prinzessin Fantaghirò gestand die Titelheldin irgendwann, wie sehr sie sich dafür schämt, dass sie früher einmal die Puppen ihrer Schwestern kaputt gemacht hat.

Für andere Figuren ist der weiß geflieste Raum mit Ketten an Decke und Wänden ein Oase der Entspannung, ein Rückzugsort, ein Hobbyzimmer. Leichen haben sie im Dutzend billiger. In verschiedenen Verwesungsstadien. Für solche Leute geht es bei der Wahrung des Geheimnisses normalerweise nicht um Scham oder Selbstschutz. Für sie ist es ein Spiel mit Macht – Macht über ihre tatsächlichen und potentiellen Opfer und auch über alle anderen Menschen.

 

Tatorte

Aber es sind nicht nur die Unterschiede in den Figuren selbst, die hier eine tragende Rolle spielen. Speziell im fantastischen Genre ist auch die Frage zu klären, in was für einem Setting die Geschichte spielt – welcher moralische Kodex gilt und wie die Gesellschaft aufgebaut ist. In einem Dark-Fantasy-Roman könnte man zum Beispiel auf eine Zivilisation treffen, in der eine oder mehrere Leichen im Keller einfach zum guten Ton gehören, während die Auffangstation für ausgesetzte und verletzte Kleintiere etwas Verwerfliches ist.

Oder mehr noch, als unsere Helden auf so grausame Wesen treffen zu lassen, können wir Autoren auch eben diese zu den Protagonisten der Handlung erheben. Dann stehen wir nicht nur vor der schweren Aufgabe, uns selbst in diese Charaktere hinein zu versetzen und die Welt aus ihrem Blickwinkel zu betrachten – Mord und Folter als selbstverständlich und sogar gut zu betrachten! – sondern müssen diese Sichtweise auch an unsere Leser weitergeben.

 

Gedankentäter

In solch einem Fall ist entscheidend, wie wir Autoren die Leiche im Keller tatsächlich zu Tage fördern. In den meisten Fällen sind die Toten schon lange verwest oder mumifiziert und es geht vor allem darum den Staub weg zu blasen, alte Fotos hervor zu kramen oder vielleicht auch Beweise zu sammeln und mit forensischer Genauigkeit den Hergang der damaligen Ereignisse zu rekonstruieren.

Wollen wir dem Leser aber tatsächlich eine völlig verdrehte Welt näher bringen, ihn Teil davon sein lassen, ist es unumgänglich, ihn nicht nur direkten Zeuge der Tat werden zu lassen, sondern ihn zum Komplizen zu machen. Wir müssen ihn praktisch zwingen, das Messer selbst anzusetzen und legen ihm eine fröhliche Melodie auf die Lippen, während er die Schaufel trägt.

Nicht jeder Leser ist bereit sich auf dieses Spiel einzulassen. Deshalb ist es für Autoren schwer, diesen Weg zu gehen und sogar noch schwerer, ihn erfolgreich umzusetzen. In so einem Fall muss alles stimmen – Figur und Plot, Struktur und Stil – damit der Leser nicht nur in diese fremde Gedanken- und Gefühlswelt eintaucht, sondern damit er auch unversehrt von dort zurückkehren kann.

2 Kommentare zu „Von Mäusen und Leichen

  1. Oh ja, böse Figuren als Protagonisten halbwegs leidbar darstellen – gar nicht so einfach zu schlucken, und vor allem auch gar nicht so einfach zu schreiben.
    Ich denke, die erste Hürde ist der Autor selbst. Wie sehr muss man sich darauf einlassen, um die Figur real wirken zu lassen, wie viel Abstand ist möglich, um nicht selbst im Kreis zu brechen? Wenn das geschafft ist, gibt es auch Leser da draußen, in der unbestimmten Ferne und Masse.
    (Wobei, kommt natürlich auch aufs Genre an. Einem Sword&Sorcery-Leser kann man natürlich andere Dinge vorsetzen als einem Romantasy-Leser.)

    1. Ja, ich glaube die Zielgruppe ist da mit entscheidend. YA und Romance vertragen soetwas wahrscheinlich weniger als Horror und Dark-Fantasy geneigte Leser. Und auch die Autoren haben ja unterschiedliche Präferenzen und oft genug stellt man sich die Frage „Kann ich das wirklich machen?“. Wie gesagt halte ich die Umsetzung für entscheidend – den Leser hinein und vor allem auch wieder heraus zu führen. Wenn das funktioniert sind solche Erfahrungen sicher wertvoll, um den eigenen Horizont zu erweitern.

      PS: Zu der Frage, wie man als Autor damit zurecht kommt, habe ich ebenfalls schon einen Artikel vorbereitet. Und auch einen über die Figur, die mir in dieser Hinsicht gerade die meisten Kopfzerbrechen bereitet und deswegen wohl auch der Anlass war, weswegen ich mich gerade sehr stark mit diesem Thema befasse.

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