#26 | Die Akademie

Eine Stadt im Herz der Welt, aus Gold und Purpur errichtet.

Heimat der Magier, der Denker und Lenker, der Großen und Mächtigen.

Unberührt von Zeit und Alter.

Ewiges Niravanon, das der Westwind nie finden wird.

 

***

 

“Was also ist das Wesen eines wahren Zauberers?“ Der Großmeister ließ seinen Blick erwartungsvoll über die versammelten Studenten schweifen.

Es brauchte ein paar Minuten, bis der erste wagte, seine Hand zu heben und zu sagen: “Er kommt nie zu früh oder zu spät? Er kommt immer genau dann an, wann er es beabsichtigt?“

Der Großmeister lächelte beflissentlich. “Ah. Ja. Ich glaube diese Worte kennen wir alle. Sie treffen die Wahrheit im weitesten Sinne. Aber was genau ist diese Wahrheit?”

Eine andere Hand schnellte in die Höhe. “Ein Zauberer kennt den Lauf der Geschichte. Den vorangegangenen und den nachfolgenden. Er kennt alle Schriften und Prophezeiungen und versteht sie miteinander zu verbinden.“

Der alte Zauberer am Pult nickte. “Ja. Das ist ein guter Anfang.“

Die Studenten murmelten unsicher. Ihre jungen, hellen Stimmen füllten den gewaltigen Saal aus weißem Marmor, hallten von den schlichten Wänden wieder. Der Großmeister wartete geduldig.

“Ein wahrer Zauberer kennt und versteht nicht nur die Schriften“, warf schließlich ein Student aus den hinteren Reihen ein. “Ein wahrer Zauberer schreibt seine eigene Geschichte. Ein wahrer Zauberer kann den Lauf der Geschichte ändern. Er erscheint deshalb immer genau zum rechten Zeitpunkt, weil er diesen selber schafft.“

Die jüngeren Studenten raunten, während sich der Sprecher zurücklehnte und die Aufmerksamkeit genoss.

Der Großmeister nickte anerkennend, wandte sich an das gesamte Auditorium: “Ich möchte, dass Sie alle sich diese Worte und die ihr zugrunde liegende Wahrheit gut einprägen, meine Herren. Magister Claas hat vollkommen Recht: ein wahrer Zauberer handelt. Ein wahrer Zauberer lenkt. Er nimmt das Geschick in die Hand und führt es auf die Wege, die er dafür ausersehen hat. Wir – die Schüler und Meister der Hohen Kunst – sind die Erben von Niravanon. Die Seher – Gründerväter unserer Akademie – haben uns ihr Wissen hinterlassen, damit wir es uns zu Nutze machen, um das Schicksal dieser Welt in geregelte Bahnen zu lenken. Wir sind die Wächter, die zwischen den Bewohnern Asariens und dem erneuten absoluten Chaos stehen.“

Atemlos Stille senkte sich über die jungen Zauberer.

“Gleich ist es soweit“, murmelte Claas und stieß Lucien den Ellbogen in die Seite. “Jedes Jahr das Gleiche.“ Mit einem herablassend Lächeln schüttelte er den Kopf.

Unruhe breitete sich aus. Es wurde geflüstert und leise diskutiert. Der Großmeister beobachtete die Studenten. Schließlich rang sich einer von ihnen durch, die Problematik anzusprechen: “Aber wenn wir die Geschichte in neue Bahnen lenken – was wird dann aus den Schriften der Seher?“

“Wenn wir uns gegen ihre Worte stellen“, rief ein anderer dazwischen. “Stellen wir uns dann nicht auf die Seite des Chaos?“

Der Großmeister nickte. “Nein. Denn Prophezeiungen sind wandelbar. Die Worte sind in Stein gemeißelt, doch ihre Bedeutung unterliegt einem stetigen Wandel. Wir sind die, die entscheiden, welche Form die Geschichte am Ende annimmt und wie sie an ihr Ziel gelangt ist. Die Schriften der Seher sind ein Vermächtnis, doch es ist unser Recht, es zu unseren Gunsten zu verwenden.“

“Wenn wir aber die Worte der Seher immer und immer wieder nach unserem eigenen Gutdünken neu auslegen – wo ist die Verbindlichkeit? Woher wissen wir, dass wir sie nicht falsch interpretieren?“

“Das ist der Grundstein der Akadmie“, erklärte der Großmeister und holte tief Luft für eine weitreichende Ausführung. “Seit dem Tag ihrer Gründung vor fast sechstausend Jahren, …“

Claas seufzte und wandte sich am Lucien. “Lass uns gehen. Ich kenne diese Leier nur allzu gut. Ich habe ein neues Gasthaus entdeckt. Die Mädchen dort sind eine Augenweide.“

Lucien nahm seine Brille ab und putzte die runden, in Gold gefassten Gläser sorgfältig. Dann setzte er sie wieder auf und schüttelte den Kopf. “Geh ruhig. Ich bleibe noch etwas.“

Claas schnaubte. “Du versauerst hier drinnen noch irgendwann. Wenn ich eines Tages zurück komme und dich unter einer Lawine aus staubigen Büchern begraben finde, werde ich einfach ein Schild aufstellen: hier ruht Lucien Lavanitas – er hat es so gewollt.“

Lucien rang sich ein feines Lächeln ab. “Tu das.“

Sein Zimmergenosse startete einen letzten Versuch: “Komm schon! Glaub mir, die Mädchen werden von dir begeistert sein. Es sind nur noch zwei Monate bis zum Abschluss. Dann werden wir unter der Fuchtel unserer Bannbrecher stehen. Bis dahin will ich noch das ein oder andere auf dem Kerbholz haben.“

Aber Lucien lehnte sich zurück und sah zu einem der hohen Fenster hinaus, die einen weiten Blick über die Dächer des Campus und die Stadt jenseits der Mauern boten. Die Sonne schien auf Zaraban herab, wie fast immer. Die Stadt, in deren Herzen die Akademie der Hohen Kunst lag, musste sich nie Gedanken um unpassendes Wetter machen.

“Geh einfach schonmal vor“, sagte Lucien. “Vielleicht komme ich irgendwann nach.“

Claas hob die Schultern. “Ich weiß, was das bedeutet. Warte nicht auf mich. Es wird spät. Oder auch wieder früh.“

Lucien nickte und schloss die Augen. Er hörte wie Claas aufstand und das Auditorium verließ, während die philosophische Debatte um die Verantwortung der Zauberer, gegenüber den Prophezeiungen und dem Schicksal der Welt, andauerte. Lucien lauschte den Stimmen, aber nicht den Worten. Er kannte alle Argumente und Gegenargumente. Es war nur noch ein Rauschen in seinen Ohren. Er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich darum ernsthafte Gedanken zu machen. Er wusste bereits, wohin sein Weg führen würde.

Er lehnte sich zurück, ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen und träumte von der Stadt aus Gold.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.