#28 | Die Akademie

Lucien blieb stehen und erwägte seine Optionen. Er könnte einfach wieder gehen. Oder er schenkte dem Jammern und seiner Quelle keine weitere Beachtung. Es klang nach einem Menschen, einem Jungen. Womöglich einer der Pagen, der sich eine Ermahnung hatte gefallen lassen müssen.

Wer auch immer es war, der in der Stille und Finsternis der Bibliothek weinte – er hatte das Licht des Abraorbs bereits gesehen, wusste Lucien. Unverrichteter Dinge zu gehen kam also nicht mehr in Frage.

Lucien ging weiter, folgte dem Licht, das ihn zu seinem Ziel führen sollte. Ein leises Schnaufen und Kratzen deutete darauf hin, dass der Junge versuchte tiefer in die Schatten zu fliehen, um nicht entdeckt zu werden. Der Abraorb folgte ihm. Das schwache Licht schälte nach und nach einen schemenhaften Umriss aus der Dunkelheit.

Lucien verzog entnervt das Gesicht. Sie hatten das Ende der Regalreihen erreicht. Der Abraorb war direkt direkt über der zusammengekauerten Gestalt zum Stillstand gekommen.

“Bitte geht weg“, schluchzte der Junge undeutlich. Sein Gesicht und seine Tränen hatte er hinter seinen Armen verborgen.

“Das hier ist die Bibliothek“, antwortete Lucien streng. “Sie ist dazu da Bücher zu finden. Deswegen bin ich hier. Was du hier machst weiß ich nicht, aber wenn es nichts mit Büchern zu tun hat – was ich im Übrigen sehr bezweifle – bist du derjenige, der fortgehen sollte. Du versperrst mir nämlich den Weg.“

Mit einem leisen Wimmern drückte sich der Junge in die Ecke, um Lucien Platz zu machen. Dabei achtete er darauf, sein Gesicht bedeckt zu halten. Luciens Neugier wurde geweckt. Der Junge war kein Page, sondern trug die Uniform eines jungen Bannbrechers.

“Solltest du nicht in der Kaserne sein?“, wollte Lucien wissen. “Was tust du hier? Warum versteckst du dich?“

“Es tut mir leid!“, heulte der Kadett auf. “Es tut mir leid! Aber bitte – schau mich nicht an!“

Lucien trat auf ihn zu und beugte sich hinab. Der Junge konnte nicht weiter zurückweichen. Seine Schultern bebten. Er war recht kräftig, wahrscheinlich ein guter Kämpfer. Lucien hielt nicht viel von solchen Veranlagungen. Schon gar nicht, wenn sie mit einer gewissen Wehleidigkeit einher gingen. Das Ergebnis war nie schön.

Er griff die Schulter des Kadetten und drückte sie zur Seite. Der Junge bot ihm kaum Widerstand, jammerte leise und zog geräuschvoll die Nase hoch.

“Na sowas!“, entfuhr es Lucien und er lächelte. “Lass mich raten: die ersten Transmutationsübungen?“

Ein durchdringendes Heulen löste sich aus dem Mund des Jungen, der mit nadelspitzen Zähnen gefüllt war. Die Lippen waren hornig und wie eine Schnauze nach vorn gezogen. Die Haut hatte sich in Schuppen verwandelt. Das Haar war borstig, verbarg die zugespitzten Ohren und ein Paar schiefe Hörner.

Lucien kümmerte sich nicht um das Zittern des verwandelten Jungen, zog den Kragen seines Hemdes zur Seite und warf einen interessierten Blick auf den schuppigen Rücken, auf dem sich zwei kleine Höcker emporreckten.

“Ich nehme sehr stark an, dass man dir erklärt hat, dass die Verwandlung in eine Wyvern größtes Geschick und Erfahrungen von Seiten des Bannbrecher bedarf.“ Lucien schüttelte den Kopf.

Der Kadett heulte wieder auf. Aus seine Reptilienaugen liefen dicke Tränen. “Ich hab nicht zugehört! Ich bin selber Schuld! Jetzt muss ich so bleiben bis ich einen Meister finde, der mir helfen will!“

Lucien konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken. “Oh ja. Meister Gyrn war schon immer sehr kreativ wenn es um Bestrafungen ging.“ Er klopfte dem Jungen auf die harte Schulter. “Keine Sorge. Irgendwann wird sich jemand darum kümmern. Erbärmlich genug siehst du aus.“

Ein tiefes Schluchzen schüttelte den Jungen. “Aber ich kann doch nicht so bleiben! Ich werde zum Gespött von ganz Zaraban!“

Lucien hob die Schultern. “Halte dich einfach von den Mädchen fern. Sie vergessen ziemlich schnell und in ein paar Jahren, wenn du ein echter Bannbrecher bist, ist diese Geschichte eine amüsante Anekdote.“

“Mädchen interessieren mich nicht!“, schnaubte der Junge zwischen zwei Schluchzen. “Keiner der Magister wird mich als Bannbrecher nehmen, wenn sie das hier mitbekommen haben! Ich bin unfähig! Mein Leben ist vorbei!“

Lucien verdrehte die Augen angesichts soviel Theatralik. “Nun komm schon. Du bist kräftig. Bestimmt bist du wenigstens ein passabler Kämpfer. Du findet auch eine andere Arbeit.“

“Aber ich wollte Bannbrecher sein! Immer schon.“ Der Kadett wischte sich geräuschvoll die Schnauze am Ärmel seiner Uniform ab.

Lucien seufzte. “Ja, die Bezahlung ist wohl …“

Mit seiner verformten Nase stieß der Junge ein ärgerliches Grunzen aus. “Geld ist mir egal. Ich wollte einfach nur Bannbrecher sein – ein Streiter der Magie, ein Verteidiger der Ordnung. Ich will gegen das Chaos kämpfen!“

Er sah Lucien mit funkelnden Augen an. Der brach in schallendes Gelächter aus.

Unter den verwirrten und zugleich bitterbösen Blicken des hilflosen Kadetten kämpfte Lucien um seine Beherrschung.

“Was soll daran bitte lustig sein?“

Lucien schüttelte das letzte Kichern ab. “Ich frage mich nur gerade, ob alle Bannbrecher so sind wie du, bevor man sie in einen Haufen verbitterter Mistkerle verwandelt. Oder ob du ein ganz besonders einfältiges Exemplar bist.“

Der Junge starrte Lucien an. Seine erstellten Züge waren schwer nach menschlichen Maßstäben zu beurteilen, aber Lucien meinte tiefe Erschütterung zu erkennen.

Er seufzte: “Na gut. Es wäre interessant das heraus zu finden. Aber dafür muss ich dich tatsächlich zurückverwandeln.“ Er schüttelte die weiten Ärmel seiner Robe zurück. “Also komm her.“

“Aber … aber …“, der Kadett sah ihn entsetzt an. “Du bist nur ein Student! Man muss mindestens Magister sein, um eine Transmuti … Transmata … eine Verwandlung zu leiten. Sonst wird alles noch schlimmer.“ Er starrte auf seine klauenartigen Hände hinab und schauderte.

“Nur ein Student?“ Lucien hob die Augenbrauen. “Mein lieber kleiner, nichtsnutziger Freund – ich bin Lucien Lavanitas.“

Über dem Echsengesicht des Kadetten ging das Licht der Erkenntnis auf. Lucien sonnte sich in seinem Schein.

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