#30 | Die Akademie

Lucien legte das Buch mit einem Seufzen beiseite, als Claas ins Zimmer polterte. Mit ihm kam der Geruch von abgestandenes Bier, Tabakrauch und feinem Puder. Er schien ein erfolgreicher Abend gewesen zu sein.

Geduldig wartete Lucien, bis Claas seine Zunge unter Kontrolle gebracht hatte und ihn mit einem fröhlichen “N’Abend-d-d“, begrüßte. Dann kicherte Claas und ließ sich aufs Bett fallen.

Lucien wandte sich wieder seiner Lektüre zu, erleichtert darüber, ungestört weiterlesen zu können. An Claas’ Schnarchen hatte er sich schon lange gewöhnt und musste den Alpdruckzauber, den er zunächst dagegen entwickelt hatte, gar nicht mehr einsetzen.

Aber Claas schlief nicht ein. Er rumorte auf seinem Bett herum, wand und drehte sich, entledigte sich seiner Kleidung und murmelte vor sich hin.

Lucien hielt den Blick auf die Seiten vor sich gerichtet.

“Mach das Lischt aus, du“, lallte Claas schließlich. “Kann ma ja ga nich schlafen so.“

Eine sanfte Geste dimmte den Schein der Kerze.

Claas hob den Kopf und starrte auf die Kerze. “Wie hast du das gemacht? Bist du ein Zauberer?!“

Stöhnend ließ Lucien den Kopf auf das Buch sinken. Claas war aufgesprungen, stolperte und torkelte zu Luciens Schreibtisch hinüber. Fasziniert griff er nach der Kerze.

“Abartig!“, entfuhr es ihm, während er mit den Fingern durch die magische Flamme wedelte. “Das will ich auch können! Zeig’s mir!“

Lucien rieb sich das Gesicht. “Leg dich einfach hin und schlaf, in Ordnung?“, versuchte er es. Er wollte dieses Gespräch nicht führen. Nicht schon wieder. Es war jedes Mal das Gleiche, wenn Claas wirklich zuviel Wein erwischte.

“Bitte, bitte“, bettelte der Betrunkene und ließ sich neben Lucien auf die Knie sinken. “Ich wollte schon immer ein Zauberer sein! Ich tue alles dafür.“

Lucien sah in die glasigen Augen seines Zimmergenossen. Das war die andere Seite dieser Angelegenheit, die angenehmere. Luciens Zunge fuhr ganz von allein über seine lächelnden Lippen.

“Alles?“, fragte er und griff nach Claas’ Haaren.

“Autsch“, maulte Claas und schob Luciens Hand gedankenlos fort. “Ich geb dir soviel Geld wie du willst. Mein Pa hat ganz viel davon.“

“Ich weiß”, seufzte Lucien enttäuscht. Offenbar war es doch noch nicht genug tarmalischer Feuerschnaps gewesen. Zahlreiche und ausführliche Experimente hatten ergeben, dass die genaue Definition von ‚Alles’ stark von der Mischung der verschiedenen Alkoholika abhing die Claas zu sich genommen hatte. “Du wirst nicht müde das zu betonen. Aber mit Geld kann man sich nicht die Befähigung zum Zauberer kaufen. Damit wird man geboren. Manche mehr – wie ich – und manche weniger – so wie du.“

Claas blinzelte zu Lucien auf. “Du meinst, ich habe dieses … Dings auch. Sollen wir es ausprobieren!?“

“Nicht in deinem Zustand!“, rief Lucien und erinnerte sich mit Grausen daran, was beim letzten Mal passiert war, als Claas diese Phase gehabt hatte. Die Rußspuren an der Decke ihres Zimmers waren unübersehbar. “Leg dich bitte hin und schlaf. Wir reden morgen darüber, in Ordnung?“

“Oh, du bist so gut!“ Claas schlang die Arme um Lucien und legte den Kopf auf seinen Schoß.

“Genug jetzt.“ Lucien schob seinen Zimmergenossen von sich. “Geh in dein Bett.“

Claas erhob sich schwankend und sah sich verwundert um. “Ist gar nicht mein Zimmer. Viel zu klein! Wo sind die goldenen Leuchter?“

Lucien nahm seine Brille ab und stand auf. Er legte den Arm um Claas Schultern und führte ihn zum Bett hinüber. “Was würdest du davon halten, wenn ich dir – wieder einmal – erkläre, dass das hier dein Zimmer ist. Du bist in der Akademie der Hohen Kunst in Zaraban, weit weg von Morkaria und vom Palast deines Vaters, den ich aus deinen nie enden wollenden Berichten inzwischen so gut wie meine eigene Westentasche kenne.”

“Was mach ich denn in Zaraban?”, murmelte Claas.

“Du bist ein Zauberer“, seufzte Lucien. “Kein besonders guter, aber Schwamm drüber.“

Claas kicherte und setzte sich aufs Bett. “Das heißt ich kann tun und lassen, was ich will?“

“Nein, du hast dich an die Regeln der Akademie und des Konzils zu halten wie wir alle.” Lucien lächelte beflissentlich. “Naja. Zumindest ihr anderen solltet das tun. Allen voran du.“

“Was sind das denn für Regeln?“, wollte Claas wissen während er versuchte sich das Hemd über den Kopf zu ziehen. Er blieb stecken und Lucien ertrug den Anblick nicht lange, griff zu und zerrte Claas aus dem widerspenstigen Stück Stoff heraus.

“Die erste Regel, die du dir merken solltest ist: keine Magie unter Alkoholeinfluss.” Lucien legte das Hemd zusammen und beiseite. “Die zweite: störe nicht deinen Zimmergenossen bei seinen Studien, sonst wird er irgendwann ungemütlich.“

Claas blinzelte und für einen Augenblick hatte Lucien die Hoffnung, endlich etwas Vernunft oder zumindest Nüchternheit in seinen Dickschädel hineinbekommen zu haben.

“Bin ich wenigstens unsterblich?“

Lucien schauderte bei dieser Frage. “Nein.“

Claas ließ sich in seine Kissen fallen. “Ich dachte immer alle Zauberer sind unsterblich.“

“Nicht per se“, erklärte Lucien ruhig. “Ein paar waren es.“

Claas kratzte sich über das breite Kinn. “Das passt doch nicht zusammen. Unsterblich gewesen zu sein.“

Lucien musste lächeln. Es faszinierte ihn immer wieder aufs Neue, wie Alkohol einem sonst so trägen und stumpfen Geist solch eine Schärfe verleihen konnte, dass er plötzlich vollkommen immun gegen Sarkasmus, Metaphern und Zweideutigkeiten wurde und Wahrheiten erkannte, um die andere jahrelang ringen mussten.

“Die wenigsten Legenden und Prophezeiungen machen wirklich Sinn, bis man herausfindet, was sie wirklich bedeuten“, erklärte Lucien, mehr an sich selbst gewandt.

“Du meinst mit ‚unsterblich’ ist nicht ‚unsterblich’ gemeint?“ Claas starrte an die Decke.

“So wird es gelehrt“, antwortete Lucien unverbindlich und sah zu seinem Schreibtisch hinüber, wo noch immer das Buch lag. Auf der aufgeschlagenen Seite war eine herrliche Illustration zu sehen, die eine goldene Stadt mit zahllosen Türmen zeigte.

Claas kniff die Augen zusammen. “Hrm … das klingt nicht so, als würdest du glauben was die alten Tattergreise sagen.“

Lucien setzte sich auf den Bettrand neben Claas. “Man sollte nicht alles glauben, was man hört. Man muss immer selbst nachsehen. Man kann sich auf niemanden verlassen, außer auf sich selbst.“

Claas brummte: “Sind das schon wieder Regeln?“

“Meine Regeln“, antwortete Lucien und deckte Claas zu.

“Also keine Unsterblichkeit?“

“Nicht so einfach“, gestand Lucien wehmütig und wirkte einen Betäubungszauber. “Nur für Götter. Und solche, die es werden.“

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